„Vernichtete Vielfalt“: Gedenkfeier in Ternberg mit Robert Kratky

Das Gedenken in Ternberg fand heuer bereits zum 13. Mal statt. 2008 war im Zuge der größten Jugendsozialaktion Österreichs „72 Stunden ohne Kompromiss“ – organisiert von der Katholischen Jugend Österreich in Zusammenarbeit mit youngCaritas und Hitradio Ö3 – mit 45 Jugendlichen aus den Dekanaten Weyer und Steyr im Keller der Pfarrbaracke in Ternberg ein Gedenkraum installiert worden. Seither findet hier jährlich eine Gedenkfeier statt, ebenso werden auf Anfrage Führungen angeboten und auch ein pädagogisches Begleitkonzept wurde erarbeitet.

Die heurige Gedenkfeier der Katholischen Jugend der Region Ennstal in der Pfarrbaracke Ternberg am 1. Oktober 2021 fand unter Einhaltung der Covid-19-Präventionsmaßnahmen statt. Mit dem beliebten Ö3-Moderator Robert Kratky konnte wieder ein prominenter Gedenkredner gewonnen werden. Kratky nahm sich unmittelbar vor der Feier ausführlich Zeit, um den Gedenkraum zu besichtigen und mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, die sich in Ternberg im Rahmen der Gedenkarbeit engagieren. Dabei wurden viele spannende Fragen erörtert. Kratky dankte vor allem den jungen Menschen für ihr Engagement; durch sie könne Ö3 immer wieder über positive Aktionen berichten.

Tendenzen totalitärer Vereinnahmung frühzeitig erkennen, benennen und aufdecken

Danach begann die Gedenkfeier, die heuer gemäß dem Jahresschwerpunkt des Mauthausen Komitees Österreich unter dem Motto „Vernichtete Vielfalt“ stand. Cornelia Weißensteiner, Beauftragte für Jugendpastoral im Dekanat Weyer, und Reinhard Fischer, Regionskoordinator der kj oö in der Region Ennstal, führten durch die Feier und erinnerten zu Beginn daran, dass das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zentrales gesellschaftspolitisches Anliegen der Katholischen Jugend OÖ sei und Vielfalt das Zusammenleben bereichere.

In seinen Grußworten verwies Generalvikar DDr. Severin Lederhilger auf Elias Canettis 1960 erschienenes philosophisches Hauptwerk „Masse und Macht“, in dem dieser die „Entfesselung des Menschen“ beschreibe, der in einer „Masse“ von Leuten aufgehe und sein Verhalten im Schutz der Anonymität und einer nicht näher zurechenbaren Kollektiv-Identität völlig verändere. Canetti benenne aber auch die Strukturen der Herrschaft von jenen, die sich solch unbestimmter Menschenmassen bemächtigten. Im seinem Werk beschreibe Canetti, wie der Eintritt in eine Masse den Einzelnen von seinen Ich-Grenzen befreie, wie man in der Anonymität seine Angst vor einem unrechten Handeln und dessen Konsequenzen verliere und sich im Kollektiv vermeintlich „Gleicher“ zugleich von aller Verantwortung und Schuld entpflichtet fühle. Weil „die Anderen“ zur Existenzbedrohung hochstilisiert würden, sei eine der markanten Eigenschaften einer Masse jene „Zerstörungssucht“, die alles Fremde vernichten wolle – wozu man sich auch noch berechtigt glaube.

Lederhilger schlug die Brücke zur Gegenwart: „Wie manipulierbar, eskalationsbereit und gewalttätig erleben wir derzeit die eigentlich friedlich beabsichtigten Demonstrationszüge oder manche ausgesprochen aggressive, maskierte Aktionsgruppen oder aber etliche anonyme Hashtag-Communities in den Foren sozialer Medien. Sie alle erliegen der Gefahr, dass sie ihr Macht- und Gewaltpotential völlig entgrenzt gegen ‚die Anderen‘ wenden – egal wie man diese definiert. Sie erleben deren Vielfalt und Fremdheit unhinterfragt bloß als Bedrohung, Konkurrenz, Feindbild. Leicht, viel zu leicht, kommt es dann zur Rechtfertigung jeglichen Machtmissbrauchs, zur Missachtung von Menschenwürde und Freiheitsrechten jenseits der eigenen Zugehörigkeit.“ Die geschürte Angst lähme eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Tun, beeinträchtige die Wahrnehmung oder lasse nur bestimmte Wirklichkeiten zu – Wirklichkeiten, „die heutzutage viel zu oft in engen Informationsblasen erzeugt werden“, so Lederhilger.

Der Appell des Generalvikars: Es gelte, „sich von Anfang an gegen alle Formen totalitärer Vereinnahmungen zu wehren, indem man – in Erinnerung an die Geschichte vor Ort und im weltweiten Zusammenhang – derartige Tendenzen frühzeitig erkennt, benennt und aufdeckt.“ Lederhilger dankte auch im Namen des Bischofs der Katholischen Jugend der Region Ennstal und allen Mitveranstaltern der jährlichen Gedenkfeier in Ternberg dafür, „dass sie sich dem Aufgehen in einer namenlosen Masse verweigern, indem sie an die Namen der Geschundenen erinnern. Sie entziehen die Opfer dieses Lagers der Vernichtung durch das Vergessen, ermöglichen durch das nachdenkliche Zusammenkommen an diesem Ort das Wachhalten von Geschichte und Geschichten, von individuellen Schicksalen und vielfältigen Biografien – und legen so den Weg für eine gute, richtungsweisende Zukunft.“ Sein Dank galt auch all jenen, „die einer ‚vernichteten Vielfalt‘ nicht das letzte Wort zubilligen, sondern der aktuell so bedeutsamen Mahnung Ausdruck verleihen, dass Freiheit, Leben, Individualität, Humanität, Toleranz und berechtigte Vielfalt keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern ein je neu zu erringendes Gut in unserem Land darstellen.“

Der Bürgermeister von Ternberg Leopold Steindler – selbst langjähriger Ermöglicher und Unterstützer der Gedenkarbeit in Ternberg – betonte, dass Gedenkfeiern nicht zur Pflichtübung werden dürften. Es dürfe nie vergessen werden, dass Kriege und die Vernichtung von Menschen auf grenzenlose Machtgier, Fanatismus und Ausgrenzung zurückzuführen seien. In Bezug auf besorgniserregende Geschehnisse der Gegenwart stellte er die Frage: „Treten wir der Intoleranz und dem Phänomen des Wegschauens entschieden genug gegenüber?“ In Vertretung von Landeshauptmann-Stellvertreterin Mag.a. Christine Haberlander sprach Landtagsabgeordnete Mag.a Regina Aspalter Grußworte. „Geschichte verblasst schnell, wenn sie nicht Teil des eigenen Erlebens war. Deshalb geht es darum, aus der Erinnerung lebendige Zukunft werden zu lassen.“ Mit diesen Worten machte sie darauf aufmerksam, dass kaum noch ZeitzeugInnen zur Verfügung stehen, um die schrecklichen Geschehnisse der NS-Zeit zu vermitteln. Aus der Erinnerung müssten Lehren für die Zukunft gezogen werden, die auch künftige Generationen als Orientierung verstünden, so Aspalter.“ Die beiden Worte „Niemals wieder“ seien in diesem Zusammenhang unverzichtbar und gehörten „zur Identität dieser Gemeinde, unserer Region und unseres Landes“, wie Aspalter betonte. Die Verantwortung für dieses „Nie wieder“ sei groß und eine Verpflichtung: „Niemals wieder Menschen vernichten, niemals wieder Vielfalt vernichten.“ Christian Breitwieser, Vorsitzender der Katholischen Jugend OÖ, betonte den Einsatz der Katholischen Jugend für Vielfalt in der Gesellschaft gegen jede soziale Diskriminierung und Ausgrenzung. „Uns als Katholischer Jugend ist es ein Grundanliegen, das Wissen und ein Gespür dafür weiterzugeben, wozu wir Menschen fähig sind. Wir wollen mit unserem Engagement mithelfen, Werte zu vermitteln, die eine Wiederholung der Gräueltaten der NS-Zeit in allen möglichen Erscheinungsformen unmöglich machen.“

Emotionales Gedächtnis als Orientierung für die Zukunft

Ö3-Moderator Robert Kratky würdigte in seiner eindringlichen und beeindruckenden Rede das Engagement der Katholischen Jugend OÖ in Ternberg und dankte besonders jenen Jugendlichen, die „im Rahmen von 72 Stunden ohne Kompromiss einen Ort geschaffen haben, an dem auf geschichtlich bedeutsamem Boden sowohl das Andenken an das, was hinter uns Menschen liegt, möglich ist als auch die Erinnerung an jene, die verschleppt, misshandelt, ermordet worden sind“. Der 48-Jährige gab einen Einblick in seine eigene Biografie und schilderte in Blitzlichtern Erzählungen über die Geschichte seiner Familie während des Zweiten Weltkrieges: Da war die Angst seiner inzwischen verstorbenen Mutter als junges Mädchen vor den Bombenangriffen oder die Großmutter, die vergeblich auf dem Bahnhof in Salzburg darauf gewartet habe, dass ihr Mann aus dem Krieg heimkehrte. Dieses emotionale Gedächtnis seiner Familie habe sich wie das vieler anderer ausgebleicht und verwaschen, was in Gesprächen mit seinen Geschwistern über die Erzählungen der Mutter und Großmutter immer wieder deutlich werde: „Irgendwann ist keiner mehr da, der sagen kann, wie das damals war, wie es sich angefühlt hat. Wir wissen, was geschehen ist – aber geschichtlichen Dokumenten fehlt das Lebendige. Wer denkt heute noch an unmenschlichste Grausamkeiten, wenn er im Kolosseum in Rom steht? Wer denkt an Krieg und Leid unter Schwert und Lanze, wenn er heute eine Burg besucht?“
Der Moderator schilderte eindrücklich seine Erfahrungen bei seinem ersten Besuch der Gedenkstätte in Mauthausen vor etwa 20 Jahren: Er war beruflich an Mauthausen vorbeigekommen und hatte sich spontan, kurz vor der abendlichen Schließung, entschlossen, die Stätte zu besichtigen. Er habe damals versucht zu spüren, was in diesen „Monumenten der Unmenschlichkeit“ von den Opfern und Tätern geblieben sei – und habe zuerst einmal gar nichts empfunden. „Es hat sich keine Traurigkeit, kein Entsetzen eingestellt. Bis ich den Raum mit den Öfen betreten habe, den Raum mit den Blumen, den Bildern, den Botschaften von Hinterbliebenen, den Raum mit den Tränen.“ Beim Betreten des Raumes habe ihn eine Flutwelle von Traurigkeit überschwemmt, so Kratky: „Ich erinnere mich an ein Empfinden, das mich in seiner unangekündigten Plötzlichkeit und Heftigkeit mitten ins Herz getroffen hat.“ Er habe nicht mehr aufhören können zu weinen. Dieses Gefühl von damals habe er bis heute konserviert: „Das Gefühl der Traurigkeit, der Fassungslosigkeit, der Wut auf die Vergangenheit, auf jene, die sie verschuldet haben.“ Diese Gefühle hätten in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine Haltung zur Geschichte „nachhaltig geprägt und verändert“, erinnerte sich Kratky.

Der Moderator stellte die Frage, ob aus der Vergangenheit tatsächlich Lehren für den heutigen Alltag gezogen würden, und kam dabei zu keinem positiven Ergebnis. Die Menschheit habe viel Gutes in ihrer Geschichte, aber auch viel Böses – Letzteres habe sie immer wieder unbelehrbar wiederholt, „weil sich Gesellschaften und Regeln zwar weiterentwickeln mögen, wir Menschen in unseren grundsätzlichen Strukturen, unseren Gedanken und Taten aber weitaus weniger, als man vielleicht glauben oder hoffen möchte“. Bezugnehmend auf den sogenannten „Mauthausen-Schwur“ der Überlebenden fragte Kratky, ob die Menschen heute tatsächlich in der darin beschworenen „neuen, für alle gerechten, freien Welt“ leben würden. An guten Tagen glaube er daran, aber: „An diesem heutigen Tag und an diesem Platz und weil im Ge-Denken immer auch Denken steckt, bin ich über alle Maßen besorgt und alarmiert.“ Es sei eine unumstößliche Wahrheit, dass das Fortschreiten der Menschheitsgeschichte von Rückschritten geprägt sei. Der Streit über Themen wie Corona, Klimaschutz oder Ausländerfeindlichkeit werde, ob in der Anonymität der sozialen Medien oder in der realen Welt, „immer gemeiner, immer unflätiger, unhöflicher und unmenschlicher“, so Kratkys Befund. Kaum noch jemand wisse, was er glauben solle, alles werde – oft halbherzig – hinterfragt. Es sei schwer, in alldem eine persönliche Haltung zu finden. „Wie sollen wir das alles einordnen, bewerten, wo soll es hinführen? Was hat das Damals mit dem zu tun, was uns heute beschäftigt und bisweilen überrollt, und was gibt es uns mit für das Heute und Morgen? Sind wir dem Auftrag unserer Geschichte gerecht geworden und werden wir es auch weiterhin? Das ist die Frage, die wir uns – egal welcher Generation wir angehören – stellen.“
Auf die Frage, ob die eingangs erwähnten emotionalen Bilder der Erinnerung der eigenen Vorfahren und der „konservierte Schmerz“ Anleitung und Orientierung für die Zukunft geben könnten, meinte der Gedenkredner: „Ja – wenn wir uns bemühen, zuzuhören, wenn Gedenken auch aus Denken besteht. Wir werden einen gemeinsamen Weg beschreiten, den Weg der unteilbaren Freiheit aller Völker, den Weg der gegenseitigen Achtung, den Weg der Zusammenarbeit am großen Werk des Aufbaus einer neuen, für alle gerechten, freien Welt. Befolgen wir die daraus abgeleiteten Regeln, Vorsätze und gegenseitigen Versprechen als Gesellschaft, als Menschen, in unseren Funktionen und privat – in unserem Wirken, in unseren Werken, in unserer Aufmerksamkeit, in unserer Wachsamkeit und vor allem unbeugsam in unserem täglichen Bemühen? Wenn Sie mich fragen: Jetzt gerade tun wir das leider nicht.“

Nach den Grußworten und der Gedenkrede gestalteten Jugendliche einen bewegenden Gedenkakt. Im weiteren Verlauf der Feier wurden die bekannten Namen der Opfer des KZ-Außenlagers Ternberg verlesen und Diözesanjugendseelsorger Mag. Vitus Glira sprach ein Gebet. Zum Abschluss wurden vor der Pfarrbaracke Kränze niedergelegt.

Breit mitgetragenes Gedenken

Die musikalische Gestaltung oblag dem Jugendchor „re-member“ und einem Bläser-Ensemble des Musikvereins Ternberg. Dass Anliegen des Gedenkens in Ternberg wird mittlerweile sehr breit mitgetragen. Als Mit-Veranstalter fungierten die Markt- und Pfarrgemeinde, der Musikverein, das Rote Kreuz, das Katholische Bildungswerk, die Katholische Frauenbewegung, die Landjugend und das Mauthausen Komitee Österreich. Zahlreiche Ehrengäste aus der kirchlichen und politischen Öffentlichkeit nahmen an der Gedenkfeier teil.

Fotos: © kj oö (honorarfrei)
Fotos: © kj oö (honorarfrei)
Fotos: © kj oö (honorarfrei)
Fotos: © kj oö (honorarfrei)
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Hintergrundbild